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Portrait von Marcel Fratzscher - Beitragsbild von Lexware Tell Your Story

Gesellschaft im Korrekturmodus

Prof. Marcel Fratzscher ist einer der bekanntesten Ökonomen Deutschlands. Er ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und lehrt an der Humboldt-Universität in Berlin. Er stellt eine zunehmende soziale Polarisierung in unserer Gesellschaft fest: Zwischen armen und reichen, zwischen jungen und alten Menschen, zwischen Männern und Frauen. Um der zunehmenden Polarisierung entgegenzutreten, müssen wir laut dem Bonner Ökonomen auf vielen Ebenen ansetzen: Unter anderem im Bereich Chancengleichheit für Frauen. Wie das gelingen kann und warum auch eine Belebung des Gründerinnengeistes eine Rolle spielt, darüber haben wir mit ihm im Interview gesprochen.

Frau sitzt mit Baby auf dem Schoß vor Laptop und schaut in ein Buch - Beitragsbild von Lexware Tell Your Story

Herr Fratzscher, für Frauen herrscht noch immer keine Chancengleichheit in Deutschland. Was müssen wir tun?

Deutschland hat einen der größten Gender Pay Gaps in Europa mit 18 Prozent: Männer verdienen über 24 Euro pro Stunde im Durchschnitt, Frauen kaum mehr als 20 Euro. Das ist letztlich eine Reflektion von Diskriminierung und fehlenden Chancen. Hier müssen wir einer Reihe von Stellschrauben drehen, zum Beispiel mit einer besseren Betreuungsinfrastruktur und -anreizen, weniger steuerlichen Hürden und höherer Wertschätzung von Frauen – inklusive besserer Karrieremöglichkeiten.

Wer regelt das – der Markt?

Fratzscher: Nein, offensichtlich nicht. Wenn der Markt alles regeln würde, dann wären wir jetzt nicht da, wo wir stehen. Der Markt kann vieles regeln, aber der Markt versagt eben auch häufig. Gleiche Chancen zu schaffen: Das ist Aufgabe von Politik und Gesellschaft. Die soziale Marktwirtschaft ist unser Gesellschaftsvertrag und der beruht darauf, jedem Menschen die gleichen Chancen einzuräumen. Und jedem Menschen Eigenverantwortung und die Möglichkeit für ein selbstbestimmtes Leben zu geben. Und das trifft auf zu viele Menschen, unter anderem Frauen, nicht zu. Und deshalb brauchen wir eine Korrektur.

Bild eines Zitats von Marcel Fratzscher
Der Markt kann vieles regeln, aber der Markt versagt eben auch häufig. Gleiche Chancen zu schaffen: Das ist Aufgabe von Politik und Gesellschaft.“
Marcel Fratzscher

Frauen haben das Potential, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Was müssen wir tun, um diese Chance zu ergreifen?

Fratzscher: Wir haben in den letzten 30 Jahren einen ordentlichen Anstieg in der Erwerbstätigkeit von Frauen gesehen, vor allem in Westdeutschland, das vor der Widervereinigung prä-historisch war. Das Einverdienermodell machte es Frauen dort extrem schwer, zu arbeiten und gleichzeitig Familie und Kinder zu versorgen.
Das ändert sich aber. Viele erwerbstätige Frauen arbeiten in Teilzeit. Und gleichzeitig sagen viele dieser Frauen, sie würden gerne mehr Stunden arbeiten, wenn es denn möglich wäre. Dazu bräuchte es aber eine bessere Betreuungsinfrastruktur in Kitas und Schulen, um Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen.
Zudem fehlt es an Wertschätzung für Frauen – nicht zuletzt bei der Bezahlung. Das liegt am Steuersystem und dem Ehegattensplitting, das häufig Anreize setzt, wenig zu arbeiten. Und auch die Mitversicherung bei der Krankenversicherung und die Möglichkeit der Minijobs setzen Anreize, wenig Stunden oder gar nicht zu arbeiten. Das sind eine Menge Stellschrauben, an denen gedreht werden muss, um allen Menschen, vor allem auch Frauen, eine freie Wahl zu geben.

Wir brauchen mehr Gründergeist und mehr Unternehmertum. Das gilt auch für Frauen.

Könnte eine Bestärkung des Gründer:innengeistes und mehr Selbstständigkeit auch dazu beitragen, mehr Gerechtigkeit in Deutschland herzustellen? Gerade Themen wir Vereinbarkeit und flexible Arbeitsmodelle sind in der Selbstständigkeit ja möglich.

Fratzscher: Ja, wir brauchen mehr Gründergeist und mehr Unternehmertum. Das gilt auch für Frauen. Unternehmensgründungen sind in den letzten 10 bis 15 Jahren deutlich rückläufig. Es ist kein gutes Zeichen für eine Gesellschaft, wenn der Wunsch der meisten jungen Menschen ist, für den Staat zu arbeiten. Sprich: Kein Risiko, Sicherheit, stabiles Gehalt. Und nicht zu sagen: Wir wollen etwas Neues probieren!
Ich habe vorgeschlagen, dass jeder junge Mensch ein Lebenschancenerbe in Höhe von 30.000 Euro bekommen sollte, worüber er oder sie frei verfügen kann. Für berufliche oder gesellschaftliche Zwecke. Mit einer solchen Starthilfe könnte man mit 30 Jahren sagen – so, ich möchte mich selbstständig machen, ich möchte mal was probieren. Und dann ist dieses Geld da, um genau das zu tun. Das wäre ein konkretes Beispiel, wie wir den Gründergeist beleben könnten.
Wir sehen übrigens, dass relativ mehr Menschen mit Migrationsgeschichte gründen als Menschen ohne. Das zeigt zwei Dinge: Zum einen mehr Offenheit dieser Menschen. Aber auch, dass sie gewissermaßen dazu gedrängt werden: Wenn sie zu den vermeintlich sicheren Jobs keinen Zugang haben, dann bleibt ihnen nichts übrig, als mehr Risiko einzugehen. Ein interessanter Trend in unserer Gesellschaft, der uns die Augen öffnen sollte.

Ausschnitt einer Infografik - Beitragsbild von Lexware Tell Your Story
Lexware und Statista haben in einer Befragung Gründungsmotive und -hürden untersucht.
Jeder und jede hat Träume, Vorstellungen. Und bei den Träumen und Wünschen für die Zukunft hat man häufig auch Vorbilder, mit denen man sich identifiziert.

Vielleicht fehlt es an Vorbildern: Welche Rolle haben Vorbilder, um mehr Menschen Selbstständigkeit als mögliche Perspektive zu eröffnen?

Fratzscher: Vorbilder sind essenziell, das zeigen sehr viele wissenschaftliche Studien. Als junger Mensch, als Jugendlicher: Jeder und jede hat Träume, Vorstellungen. Und bei den Träumen und Wünschen für die Zukunft hat man häufig auch Vorbilder, mit denen man sich identifiziert.
Es ist schwierig für ein kleines Mädchen mit dunkler Hautfarbe und muslimischem Familienhintergrund einen alten weißen Mann als Vorbild zu haben. Menschen schauen: Wer sieht ähnlich aus wie ich, hat einen ähnlichen Hintergrund, mit wem identifiziere ich mich? Und deshalb ist es so wichtig, dass die gesamte Vielfalt unserer Gesellschaft in Leitungspositionen, in den sichtbaren Positionen in Unternehmen, in Politik und in gesellschaftlichen Institutionen widergespiegelt wird.
Auch in Kunst und Kultur gilt das. Und da schneidet Deutschland schlecht ab. Mehr Diversität heißt bessere Erfolge und Leistungen, ob das am finanziellen Umsatz oder an Erträgen gemessen ist, bei Problemlösungen oder bei der Zufriedenheit der Beschäftigten.

Diversität ist etwas uneingeschränkt Gutes. Wir brauchen Vielfalt: Vielfalt von Ideen, Vielfalt von Perspektiven – und Frauen bringen andere Perspektiven ein.

Stichwort Problemlösung: Frauen gründen oft anders, aus sozialen oder nachhaltigen Motiven oder persönlicher Betroffenheit. Ist das eine Chance für uns, um den Herausforderungen der Zeit zu begegnen?

Ja, unbedingt. Diversität ist etwas uneingeschränkt Gutes. Wir brauchen Vielfalt: Vielfalt von Ideen, Vielfalt von Perspektiven – und Frauen bringen andere Perspektiven ein. Sie legen häufiger den Fokus auf eine soziale Dimension, haben häufig mehr Teamorientierung. Natürlich darf man nicht verallgemeinern, aber tendenziell trifft das zu und wir sehen das auch in den Daten. Es geht nicht immer nur darum, etwas nerdy-technisches zu machen, sondern wir brauchen gerade auch im sozialen Bereich Innovation und deshalb ist das etwas sehr, sehr Gutes.

Herr Fratzscher, wir danken Ihnen für das Gespräch!

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