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Stehende Frau mit einem Handy in der Hand, umgeben von vielen gehenden Menschen- Beitragsbild von Lexware Tell Your Story

Geschlechtergerechtigkeit: "Wir müssen machen!"

Prof. Dr. h.c. Jutta Allmendinger Ph.D. ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. „Es geht nur gemeinsam“ und „Das Land, in dem wir leben wollen“ sind nur zwei ihrer vielbeachteten Autorinnen-Werke. Mit ihrer Forschungsarbeit hat die renommierte Soziologin in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt und der Gleichstellung von Frauen und Männern Pionierarbeit geleistet. Im Interview haben wir mit ihr darüber gesprochen, was wir jetzt tun müssen, um als gesamte Gesellschaft von gleichen Chancen aller zu profitieren.

Portrait von Jutta mit braunen kinnlangen Haaren- Beitragsbild von Lexware Tell Your Story

Frau Allmendinger, warum lobt das Weltwirtschaftsforum noch immer 132 Jahre bis zur beruflichen Gleichstellung von Männern und Frauen aus?

Allmendinger: Eines vorab: Die Prognose erscheint mir gewagt zuversichtlich. Das Weltwirtschaftsforum bezieht sich auf unseren ganzen Planeten. Betrachtet man die brutale Unterdrückung der Menschenrechte von Frauen im Iran oder Afghanistan erkennt man schnell, wie fragil jeder Fortschritt ist – und wie steinig der Weg zu einer unhinterfragten, selbstverständlich gelebten Gleichstellung von Männern und Frauen. Meine Prognose ist zurückhaltender. Wenn etablierte Demokratien noch weit entfernt von einer Gleichstellung sind, wenn auch hier Quoten und andere explizite Vorgaben benötigt werden, dann wird es weltweit noch sehr, sehr lange dauern.

Doch nun zurück zu Ihrer Frage. Das Weltwirtschaftsforum stützt sich auf Indikatoren, die die berufliche Gleichstellung von Frauen und Männern gut erfassen, seit langem vorliegen und gerade von den G7-Ländern bekräftigt wurden. Das sogenannte G7 Dashboard mit entsprechenden Kennzahlen wird jährlich von der OECD aktualisiert und von dem G7 Gender Equality Advisory Council (GEAC) kommentiert. Aufgeführt werden hier die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Erwerbsbeteiligung, den Erwerbsarbeitszeiten, dem Stundenlohn, der Dauer der unbezahlten Pflege- und Sorgearbeit und den erreichten Altersrenten. Diese Indikatoren hängen natürlich stark zusammen mit dem Anteil von Frauen in Führungspositionen und der Ballung von Männern in (besser bezahlten) Männerjobs und Frauen in (schlechter bezahlten) Frauenjobs.

Betrachtet man die brutale Unterdrückung der Menschenrechte von Frauen im Iran oder Afghanistan erkennt man schnell, wie fragil jeder Fortschritt ist – und wie steinig der Weg zu einer unhinterfragten, selbstverständlich gelebten Gleichstellung von Männern und Frauen.

Auf welchen Ebenen – politisch, gesellschaftlich, privat – müssen wir aktiv werden, um Gerechtigkeit und Chancengleichheit im Alltag zu leben?

Allmendinger: Zunächst ist ein breit angelegter gesellschaftlicher und politischer Diskurs darüber zwingend, wie wir die Unterschiede in den Lebensverläufen von Männern und Frauen schließen wollen. Ein „weiter so“ geht nicht. Also bleiben drei grundsätzliche Wege: Frauen passen ihre Lebensverläufe jenen von Männern an, wir gehen in Richtung einer Vollzeit für alle. Männer passen ihre Lebensverläufe Frauen an, dann gehen wir in Richtung gleicher Arbeitszeiten mit einem geringeren Stundenumfang als heute. Das wären in etwa 33 Stunden/Woche bezahlter Erwerbsarbeit als neuem Normal für alle, gedacht über den gesamten Lebensverlauf. Die dritte Möglichkeit besteht darin, bislang unbezahlte Sorgearbeit von Frauen – die Erziehung von Kindern, die Hausarbeit, die Pflege der Älteren und Schwachen – finanziell abzugelten. Die berufliche Ungleichheit wäre damit nicht behoben, zumindest hätten Männer und Frauen aber ähnliche finanzielle Spielräume.

Konkrete politische, gesellschaftliche und private Leistungen und erforderliche Verhaltensweisen würden sich direkt aus dem Ergebnis dieses Diskurses ableiten. Wenn alle Vollzeit arbeiten, müsste die Infrastruktur für Kinder und Ältere massiv aufgestockt werden, das Ehrenamt wäre an entsprechende Einrichtungen zu verlagern, es bedürfte eines insgesamt erheblichen Aufwuchses von Personal. Gehen wir in Richtung einer 33 bis 34 Stunden/Woche als neues Normal, müssen wir alle Anreize abschaffen, die eine unterschiedliche Verteilung der Arbeitszeit zwischen Mitgliedern eines Haushaltes nahelegen und belohnen: Das Ehegattensplitting, die kostenlose Mitversicherung, die nicht sozialversicherungspflichtigen Minijobs. Wir müssten mit den Partnerschaftsmonaten beim Bezug von Elterngeld deutlich zulegen, am besten von 2 auf 6 Monate. Andere Länder zeigen, dass das geht. Wollen wir Frauen für ihre bislang unbezahlt verrichtete Arbeit kompensieren, brauchen wir sehr viel Geld und zudem die Chuzpe, viele hochproduktive Menschen einfach links liegen zu lassen.

Welchen dieser drei Wege sollten wir Ihrer Ansicht nach einschlagen?

Allmendinger: Ich sehe die Gleichverteilung von bislang unbezahlter Erwerbstätigkeit zwischen Männer und Frauen als das zentrale Ziel, an dem sich alle anderen Maßnahmen zu messen haben. „Es geht nur gemeinsam“, heißt entsprechend auch mein letztes Buch, in dem ich einen Fahrplan hin zu einer geschlechtergerechten Arbeitswelt darlege.

Wir haben kein Erkenntnisproblem, uns fehlt es an der generellen Richtung und an der Kraft der Umsetzung.

An welchen Stellen sind wir bisher noch blind – oder liegen die Lösungen bereits vor uns?

Allmendinger: Wir haben kein Erkenntnisproblem, uns fehlt es an der generellen Richtung und an der Kraft der Umsetzung.

Die Debatte bewegt sich vor allem in der Konzern- und Angestelltenwelt: Wir reden über Quoten in DAX-Konzernen und Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Stichwort „New Work“. Wie erreichen wir auch in der Welt von Selbstständigen und Gründer:innen Gleichberechtigung? Frauen gründen seltener, häufiger im Nebenerwerb und tragen zusätzlich immer noch einen Großteil der Care Arbeit.  

Allmendinger: Auch hier ist der GEAC-Bericht 2022 ein guter Fundort, da die G7-Länder der Selbstständigkeit von Frauen eine große Bedeutung zusprechen. Wir brauchen einen Vertrauensvorschuss für Gründerinnen, sehr gute Hilfen in der Vorbereitung der Gründung, ein besseres Coaching und Begleitung nach der Gründung. Wir brauchen Vertretungsorgane wie Gewerkschaften. Und wir brauchen eine bessere sozialstaatliche Abfederung.

Warum profitieren wir als Gesellschaft insgesamt und Männer im Besonderen, wenn letztere aus bestehenden Rollenklischees ausbrechen und sich und ihre Aufgaben neu definieren?

Allmendinger: Es gibt viele Gründe, Männer nicht auf die Erwerbsarbeit und Frauen auf Pflege und Sorge zu reduzieren. Zunächst zeigt die Forschung, dass dies den Wünschen von Männern und Frauen entspricht. Sie wollen partnerschaftliche Beziehungen auf Augenhöhe. Die Gesellschaft profitiert von zufriedenen Bürgerinnen und Bürgern, das erhöht den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine geschlechtergerechte Gesellschaft führt zu weniger Armutsfallen im Alter, sie ist auch insofern eine präventiv aufgestellte Gesellschaft. Eine geschlechtergerechte Gesellschaft profitiert auch wirtschaftlich, da alle menschlichen und innovativen Ressourcen genutzt, aber nachhaltig eingesetzt und damit nicht überanstrengt werden. Die Produktivität steigt, physische und psychisch Überlastungen dagegen gehen zurück.

Eine geschlechtergerechte Gesellschaft profitiert auch wirtschaftlich, da alle menschlichen und innovativen Ressourcen genutzt, aber nachhaltig eingesetzt und damit nicht überanstrengt werden.

Eine abschließende Frage: Wir glauben an die Kraft von Vorbildern, um Veränderung voranzubringen.  Was sind und waren für Sie inspirierende Persönlichkeiten und mutmachende Personen, die Sie während Ihres beruflichen Werdegangs geprägt haben?

Allmendinger: Meine Professorinnen in Madison und Harvard, wo ich studierte. Sie haben zu sich nach Hause eingeladen, mir gezeigt, wie Wissenschaft, Familie und ein ganzes Leben zusammengehen, mir das Berufliche und das Private sichtbar gemacht. Das hat mich ungemein gestärkt – in Partnerschaften, bei der Erziehung meines Sohnes, bei der Pflege meiner Mutter. Und natürlich im Auf und Ab meiner wissenschaftlichen Karriere.

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