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Emre Celik sitzt auf einem Stuhl in einem großen Raum

"Ich bin eure Lobby"

Emre Celik zögert nicht lange, wenn es um Diskriminierung geht. Der 31-Jährige ist hauptberuflich Employee Relations Partner bei Google und ist in prekären Verhältnissen aufgewachsen. Als Kind türkischer Einwanderer und mit einer queeren Identität weiß Emre aus eigener Erfahrung, was Ausgrenzung bedeutet. Schon seit seiner Jugend kämpft er unermüdlich für Fairness, Vielfalt und Inklusion. Der gefragte und mehrfach ausgezeichnete Speaker, Aktivist und Gründer verfolgt eine klare Mission: die Schaffung eines "Antidiskriminierungsökosystems."

Portrait von Emre Celik

Emre, du hast mit über 50 Unternehmen in Deutschland gesprochen. Wie würdest du die Vielfalt- & Inklusions-Kultur in diesen Unternehmen beschreiben?

Emre: In meiner Rolle als Speaker konnte ich hinter die Kulissen vieler Unternehmen blicken und musste häufig feststellen, dass sie noch einen langen Weg vor sich haben. Beim Thema Vielfalt erfinden wir jedoch nichts Neues: Vielfalt ist genauso allgegenwärtig wie unsere Menschlichkeit. Der Mensch ist vielfältig! Unsere Lebensrealitäten und Identitäten lassen sich nicht einfach an der Unternehmenstür ablegen.

Woran liegt das?

Emre: Die Unternehmen wollen oft Normen und Strukturen einhalten und können mit Menschen wie mir nicht gut umgehen. Ich passe mit meinem intersektionalen Hintergrund (türkisch, nicht-binär und Armutsbiographie) in keine Schublade hinein. Die Menschen begegnen mir häufig mit Skepsis und Ablehnung, weil sie meine Identitäten und Erfahrungen nicht verstehen. Sie können mich auch nicht verstehen, weil sie nicht durch das gegangen sind, was ich erlebt habe. Aber sie können mitfühlen. Sie können zeigen: Ich verstehe dich nicht, aber ich will, dass es dir gut geht und dass du sicher bist.

Schon in der Schule habe ich mich dazu berufen gefühlt, Streit zu schlichten und zwischen den Parteien zu vermitteln.

Du verfolgst die Mission, ein “Antidiskriminierungsökosystem” zu erschaffen. Was genau ist das?

Emre: Das Antidiskriminierungsökosystem besteht aus “Occtopus”, einem Kinderspiel-Start-Up, und “We Speak You Donate”, einem Antidiskriminierungsverein, sowie verschiedenen Initiativen. Die Vision dahinter ist, eine Welt zu erschaffen, in der jeder Mensch sich zugehörig fühlt, unabhängig von Herkunft, Kultur, Geschlecht, sexueller Orientierung oder Hautfarbe Mit Occtopus entwickeln wir eine App, mit der Eltern und Kinder spielerisch Vorurteile und Stereotypen erkennen können. Mit We Speak You Donate vernetzen wir NGOs mit Unternehmen und bauen Brücken zwischen den Welten. So konnten wir schon ca. 40.000€ einnehmen und verschiedene Antidiskriminierungs-Projekte finanzieren.

Portrait von Emre Celik
Portrait von Emre Celik

Gesellschaft durch Kinderspiele verändern - erzähl uns mehr darüber.

Emre: Stell dir vor, ein Kind wirft den Ball wie ein Junge und dann wie ein Mädchen. Rate mal, wie Kinder den Ball als Mädchen geworfen haben? Überraschenderweise haben viele Mädchen gelernt, dass Geschlecht eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielt und halten oft unbewusst oder bewusst ihr wahres Potenzial zurück. Unsere Erziehungsansätze und das Schulsystem ermutigen Kinder häufig, gesellschaftlichen Normen zu entsprechen, anstatt ihre einzigartigen Identitäten zu entwickeln. Menschen, die sich nicht innerhalb ihrer sozialen Identität bewegen, erleben oft extreme Diskriminierung. So zum Beispiel ein Mädchen, das Fußball spielt, oder ein Junge, der gerne Nagellack trägt. Deshalb habe ich Occotpus gegründet - um Vorurteile und Stereotypen von Anfang abzubauen und Kindern zu helfen, das kognitive Puzzle unserer Gesellschaft zu lösen.

Wie bist du zum Antidiskriminierungsexperten geworden?

Emre: Fairness war für mich schon immer wichtig, weil ich sie als Kind nicht erlebt habe. Schon in der Schule habe ich mich dazu berufen gefühlt, Streit zu schlichten und zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich war Pausenhelfer, Klassensprecher und Schulsprecher. Heute ermittle ich bei Google, wenn es um Fälle von Diskriminierung, Belästigung und Vergeltung geht.

Ich passe nicht in das typische Bild eines Start-Up-Gründers und ich bin fest entschlossen, nicht in diese problematischen Muster zu verfallen.

Du hast nebenberuflich gegründet. Welche Erfahrungen hast du damit gemacht?

Emre: Als ich mich in die Welt der Start-ups begab, stellte ich schnell fest, dass sie von Privilegien geprägt und teilweise toxisch ist. Ich habe vor einigen Jahren kurz in einem Start-up gearbeitet und nach nur sechs Monaten gekündigt. Heute bin ich selbst Gründer und sehe viele der gleichen ungesunden Dynamiken wieder in der Start-Up-Szene auftauchen: Überarbeitete Mitarbeiter, launische Gründer, eine Kultur, die Überstunden glorifiziert, und enormer Druck seitens der Investoren.

Ich passe nicht in das typische Bild eines Start-Up-Gründers und ich bin fest entschlossen, nicht in diese problematischen Muster zu verfallen. Um das zu gewährleisten, ist es ein Segen, Anja Höbel an meiner Seite zu haben. Mit Anja habe ich nicht nur eine enge Freundin gefunden, sondern auch eine Co-Gründerin, die meine Werte teilt. Uns ist es wichtig, Entscheidungen sorgfältig und kollektiv zu treffen.

Für marginalisierte Menschen, besonders aus einkommensschwachen Verhältnissen, ist Gründen riskant. Doch ich glaube, man kann mit Geduld und Beständigkeit Erfolg haben, ohne alles zu verlieren.

Wie behältst du angesichts der Vielzahl deiner Aufgaben den Überblick?

Emre: Ich behalte ihn nicht. Mir helfen aber viele Menschen, einen guten Überblick zu behalten. Wenn ich eine Deadline verpasse, ärgere ich mich, aber dann ist das eben so. Diese Einstellung ist wichtig, vor allem wenn man Pionier auf seinem Gebiet ist. Mein Grundprinzip lautet: Radikales Mitgefühl mit mir selbst zu haben. Das bedeutet, es ist okay, wenn ich nicht jeden Tag meine beste Leistung bringe. Ich gebe Menschen Visionen und eine Bestimmung und bekomme dafür im Gegenzug viel Unterstützung. Bei LinkedIn habe ich ein riesiges Support-Netzwerk aufgebaut. Heute lenke ich die Geldströme in die richtige Richtung.

Was ist deine Vision für die Zukunft?

Ich träume von einer Gesellschaft, in der Herkunft, Kultur, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Hautfarbe nicht als trennende Faktoren, sondern als Bereicherung wahrgenommen werden. Eine Welt, in der Kinder ihre Einzigartigkeit ohne Angst entfalten und Erwachsene einladen, ihre eigene Menschlichkeit anzuerkennen, um von Normativität zur Normalität zu gelangen.

5 Tipps

Emre Celiks Tipps für angehende Gründer:innen

  • Reflektiere: Frage dich, welchen wahren Mehrwert dir eine Gründung bietet. Vielleicht ist es anfangs sinnvoller, gemeinsam mit Freunden ein Projekt zu starten, anstatt sofort ein Unternehmen zu gründen.
  • Don't overthink: Wenn du weißt, wohin du möchtest, dann starte einfach. Wir haben bis heute keinen klaren Businessplan.
  • Bleib dir treu: Meinungen und Feedback sind wertvoll, aber nicht jeder Ratschlag wird dich weiterbringen.
  • Kalibriere: Treffe keine Entscheidung alleine! Bringe verschiedene kognitive Sichtweisen ein.
  • Vielfalt, egal was du tust: Berücksichtige immer diverse Perspektiven und integriere Vielfalt als Teil deiner Unternehmens-DNA.
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© Foto Credits:
Philipp Müller | Stefan Hoederath

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