Estella Schweizer ist Expertin für nachhaltige, pflanzenbasierte Ernährung. Ihr Ziel? Das Bewusstsein für die Macht unserer Ernährungsgewohnheiten zu schärfen. Ihr Weg in die Selbstständigkeit verlief alles andere als geradlinig. Als Autorin und Coachin inspiriert die charismatische Freiburgerin nicht nur die Gastronomie- und Hotelbranche, sondern alle Menschen, denen sie begegnet.
Estella, wie rettet man die Welt mit Genuss?
Estella: Die Bedeutung von Ernährung erstreckt sich über alle Lebensbereiche: Food connects everything. Wenn man sich die 17 Nachhaltigkeitsziele der Weltgemeinschaft anschaut, dann wird schnell klar, dass das Thema Ernährung mit allen 17 Zielen direkt oder indirekt verknüpft ist. Genuss ist dieser riesige Türöffner, weil jeder Mensch mehrmals täglich isst und dabei entscheiden kann: Was wähle ich und wie kaufe ich möglichst nachhaltig ein?
Welchen Ansatz verfolgst du dabei?
Estella: Menschen, die Genuss vermitteln und Ernährungsverhalten oder Trends mitprägen, können ihr Wissen und die Essenz der Kulinarik dafür einsetzen, um positive Impulse zu geben. Wenn ich mit der Gastronomie- und Hotelbranche zusammenarbeite, helfe ich ihnen, zu erkennen: Ihr seid diejenigen, die die kulinarische Geschichte erzählen und ihr könnt eure Fähigkeiten, Fertigkeiten und eure Position dafür nutzen, die Gesellschaft positiv zu beeinflussen.
Was sind deine Erfahrungen aus deiner Arbeit als Beraterin und Coachin in der Gastronomie?
Estella: Früher galt der vegane Gast oft als schwierig, da er Sonderwünsche hatte, die nicht auf der Speisekarte standen. Dies führte oft zu unangenehmen Situationen, und diese Erfahrungen haben bei vielen Küchenteams einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Heutzutage sind jedoch Menschen, die sich für eine pflanzliche Ernährung entscheiden, die treibende Kraft für Umweltveränderungen. Sie bringen Themen auf den Tisch, die in der Gesellschaft präsent sind und denen sich die Küchenchefs stellen müssen.
Ich hole die Teams mit einem sehr globalen Blickwinkel ab. Die Frage lautet nicht mehr "Vegan oder nicht-vegan", sondern "Wie können wir die Welt bewahren?" Wir wollen sicherstellen, dass die nachfolgende Generation eine lebenswerte Zukunft hat. Mit dieser Perspektive unterstütze ich die Teams dabei, die Auswahl der Lebensmittel neu zu denken und die altbekannten Kochtechniken zu hinterfragen.
Es war ein "Trial & Error-Projekt" mit vielen Learnings, vor allem bei Steuern und Buchhaltung.
Wie bist du zum veganen und klimaneutralen Kochen gekommen?
Estella: Schon als Kind kam ich mit dem Thema Ernährung in Berührung, da mein jüngerer Bruder eine lebensbedrohliche Allergie gegen tierische Eiweiße hat. Meine Mama stellte unsere Ernährung daher radikal auf Vollwertkost um. Als 11-Jährige begann ich mich selbst für Ernährung zu interessieren, und diese Frage wurde zu meinem Lieblingsthema – und wird rückblickend sicher zu meinem Lebenswerk. Schnell erkannte ich die Vielfalt der Ansätze und die globalen Zusammenhänge, etwa das Verhältnis von Überernährung mit allen krankmachenden Faktoren in westlichen Gesellschaften und Unterernährung in Entwicklungsländern.
Nach dem Abi studierte ich Medizin. Während meines 5-jährigen Studiums wurde mir klar, dass meine Leidenschaft in der Ernährung liegt und ich präventiv arbeiten möchte. In einer spontanen Entscheidung brach ich mein Studium ab und meldete mich stattdessen für eine Ausbildung zur Ergotherapeutin an.
Wann hast du dich selbstständig gemacht?
Estella: Parallel begann ich meine gastronomische Laufbahn als Assistentin der Geschäftsführung im Kartoffelhaus in Freiburg. Dort entdeckte ich meine Leidenschaft Gastgeberin zu sein. Im Jahr 2013 startete ich mit diesem Wissen zusammen mit meinem damaligen Partner ein erfolgreiches Projekt: ein Fahrrad, auf dem wir vegane und glutenfreie Crêpes zubereiteten. Es war ein "Trial & Error-Projekt" mit vielen Learnings, vor allem bei Steuern und Buchhaltung. Ein Jahr später zogen wir nach Regensburg, verkauften unser Fahrrad, und ich stand vor der Frage, wie es mit meiner Selbstständigkeit weitergehen sollte.
Du hast die Geschäftsführung eines Yoga-Cafés übernommen. Wie kam es dazu?
Estella: In dieser Phase der Selbstfindung stieß ich auf ein Yoga-Studio mit Café-Bereich, dessen Inhaber nach einer Geschäftsführung suchten. Ich übernahm diese Position fünf Jahre lang und konnte mich an diesem Ort ausleben. Glücklicherweise durfte ich die Räumlichkeiten für Kochkurse und Backkurse nutzen. Außerdem startete ich mit meinem Team eine sehr erfolgreiche Reihe an Fine-Dining-Abenden, die über die Grenzen Regensburgs hinaus bekannt wurden. Parallel absolvierte ich die Ausbildung zur Plant-based Chef. Nach fünf Jahren entschied ich mich dann aus persönlichen Gründen, nochmal umzusatteln und in eine andere Richtung weiter zugehen.
Du bist zurück nach Freiburg gezogen. Wie ging es dann weiter?
Estella: Ich arbeitete bei fairfood, einer fairen Nussmanufaktur, in den Bereichen Rezept- und Produktentwicklung, Sales und Marketing. In dieser Zeit entstanden meine ersten beiden Kochbücher mit Greenpeace, und ich habe während der Pandemie ein “Greenkantine @home”-Projekt auf Instagram gestartet. Dennoch fehlte mir ein übergeordnetes Ziel in meiner Arbeit, bis ein Freund mir durch eine SWOT-Analyse half, eine klare Richtung zu finden. Auf einem Kongress für Gastronomie und Hotellerie hielt ich einen Vortrag zum Thema "Die Hospitality-Branche als Change-Motor", aus dem erste Aufträge resultierten, etwa mit den Marriott Hotels. Neben dem Consulting und hands-on Training mit Köch:innen- und Managementteams, liebe ich meine Arbeit als Kochbuchautorin und Rezeptentwicklerin für Unternehmen in der Food-Branche.
In Bereichen, in denen ich weniger Erfahrung habe, hole ich mir Hilfe.
Als Speakerin wirst du auch zunehmend von Unternehmen außerhalb der Food-Branche eingeladen. Woran liegt das?
Klimafreundliche Genuss-Entscheidungen werden auch in Betriebskantinen getroffen. Große Unternehmen beziehen den Wareneinsatz in Kantinen in ihre Nachhaltigkeitsbemühungen ein, wodurch der Food-Bereich an Bedeutung gewinnt. Denn Lebensmittelverschwendung und tierische Zutaten sind doppelt teuer: Durch den Wareneinsatz beim Einkauf und die steuerlichen Folgen bei der Auswertung der CO2 Emissionen. Meine Aufgabe ist es dann, die Mitarbeitenden mit „Brainfood“ zu füttern und die Nachfrage nach pflanzlichen Angeboten der Gemeinschaftsverpflegung zu erhöhen.
Du hast bereits vier Kochbücher veröffentlicht. Woher nimmst du deine Rezeptinspiration?
Estella: Die Inspiration für Rezepte ergibt sich aus der Vielfalt der Zubereitungstechniken, der Kombination von Gewürzen und Kräutern sowie meinem ständigen Experimentieren. Ich habe eine Intuition für "Food Pairing". Mein kulinarischer Stil zeichnet sich durch intensive Würze, reichlich Kräuter und eine ausgeprägte Säure aus. Es ist für mich ein besonderes Geschenk, wenn Freunde mich spontan auffordern, etwas zu zaubern. Und ich koche eigentlich immer ohne ein festes Rezept. Mir fällt es ehrlich gesagt sogar schwer, Rezepten zu folgen – selbst meinen eigenen.
Du bezeichnest dich als "one-woman-show". Holst du dir dennoch manchmal Unterstützung?
Estella: In Bereichen, in denen ich weniger Erfahrung habe, hole ich mir Hilfe, sei es bei der Buchhaltung oder der Website-Gestaltung. Bei meinen Buchprojekten arbeite ich eng mit einem Kreativteam zusammen. Die Layoutgestaltung und Rezeptfotografie überlasse ich Profis. Zudem gibt es den Verlag und Pressearbeit, sodass viele Menschen an einem Buchprojekt beteiligt sind. Manchmal überlege ich, eine Assistenz einzustellen, aber die Natur meiner Arbeit erfordert spezifisches Fachwissen, besonders in der Gastronomieberatung, wo die Kommunikation höchst individuell auf die Kundschaft zugeschnitten ist.
Du bist selbstständig aus Überzeugung. Warum glaubst du, dass die Gründungszahlen in Deutschland rückläufig sind?
Estella: Die Gesellschaft hat sich verändert. Vor 20 oder 30 Jahren gab es mehr Menschen, die bereit waren, Verantwortung zu übernehmen und ihren Lebensstil anzupassen, um etwas für die Gesellschaft zu bewirken. In der heutigen Zeit hat die Work-Life-Balance eine höhere Bedeutung erlangt. Die Prioritäten haben sich verschoben, und die Menschen denken stärker darüber nach, was sie persönlich gewinnen können, anstatt was sie in die Gesellschaft einbringen könnten. Vielleicht fehlt der innere Antrieb oder die Orientierung für den Zweck eines eigenen Projektes?
Die Welt ist so viel komplexer geworden -und gerade an den bürokratischen Hindernissen scheitern viele Initiativen.